Es gibt viele Fragen rund um Verlust und Trauer, die sich im Leisen stellen: Wann geht die Trauer vorbei? Wie trauert man richtig? Verdränge ich meine Trauergefühle? Für mich ergab sich ein völlig neuer Blick auf das Thema, als ich die internationale moderne Trauerforschung entdeckte. Sie nimmt Trauer erstmals mit empirischen Studien unter die Lupe – und stellt damit manche Annahme über Trauer auf den Kopf.
Ich war 13, als meine Mutter an Brustkrebs starb, und 33, als ich anfing, mich intensiv mit meinem frühen Verlust zu beschäftigen. Ich las Ratgeber, Biografien und wissenschaftliche Texte über Verlust und Trauer. Ich lernte über Trauerphasen und Trauerarbeit, über die psychischen Auswirkungen, die der Verlust der Geborgenheit einer Mutter auf ein Kind haben kann. Über die Veränderungen im Familiengefüge, wenn die Tochter an die Stelle der Mutter nachrückt. Über tiefsitzende Traumata und wie man sie lösen kann, und mehr … Eins hatte der Großteil der Texte gemeinsam: Ich konnte mich in ihnen nur selten wiedererkennen.
Richtig trauern: verdrängen vs. zulassen
Meine Erfahrungen schienen mir in den meisten Fällen ganz anders, teilweise konträr. Ich kann sagen, ich blicke überwiegend positiv auf meine Verlusterfahrung. Ich bin dankbar für die Sichtweise aufs Leben, für die innere Haltung, die ich dadurch entwickelt habe. Da ich von einer solchen Perspektive nirgends lesen konnte, drängten sich Fragen auf, die ich schon kannte: Mache ich etwas falsch? Verdränge ich meine Trauer? Bin ich emotional blockiert?
Wie hochgradig individuell wir Menschen Trauer erleben und dass mit mir alles in bester Ordnung ist – das wurde mir erst bewusst, als ich die moderne internationale Trauerforschung entdeckte. Eine noch junge Wissenschaft, die es erst seit etwa 25 Jahren gibt. Nachfolgend beziehe ich mich auf deren Erkenntnisse, die vielleicht auch dir helfen.
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Trauer ist individuell
Wenn wir von Trauer sprechen, ist oft gar nicht so klar, was wir konkret meinen. Denn Trauer ist ein Sammelbegriff für die verschiedensten Gefühle. Zu ihr gehören u.a. Sehnsucht, Traurigkeit, Einsamkeit, Angst, Wut, Schuld, emotionale Leere oder Betroffenheit. Häufig zeigt sich Trauer aber auch in positiven Gefühlen wie etwa Dankbarkeit, Mitgefühl, Liebe oder Erleichterung. Interessanterweise gehören sogar die Freude und das Lachen zu einem gesunden Trauerprozess.
All diese Gefühle können gleichzeitig, nacheinander oder wiederkehrend aufkommen – oder auch nicht. Die Form, Intensität und Dauer der Trauergefühle variieren von Person zu Person. Von den sogenannten Trauerphasen lässt sich angesichts dieser Varianz beim besten Willen nicht sprechen. Es konnte in empirischen Studien kein Beleg für sie gefunden werden. Die häufige Rezitation – im Internet, in Büchern, Filmen und sogar auf Websites von Trauerbegleiter:innen – beruht auf überholten Annahmen. (siehe auch: Es gibt keine Trauerphasen)
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Wann geht Trauer vorbei?
Wie jemand Trauer erlebt und wann sie vorbeigeht, hängt von diversen Einflussfaktoren ab. Diese sind u.a.:
- das Alter, in dem ich den Tod erlebe
- die Tiefe der Beziehung zwischen mir und der verstorbenen Person
- die Todesursache.
Aber auch die gemeinsame Zeit vor dem Tod ist relevant: Gab es hier bereits Veränderungen in der Beziehung, wie im Fall einer längeren Krankheit? Gab es vorab Gefühle des Abschieds? In diesem Fall können beispielsweise nach dem Tod die positiven Gefühle wie Erleichterung und Dankbarkeit im Vordergrund stehen.
Auch die Situation nach dem Tod spielt mit hinein: Blieb etwas Wichtiges ungesagt? Falls ja, kann es sein, dass das Ungesagte den Trauerprozess blockiert. (siehe auch: Wie du von Verstorbenen Abschied nehmen kannst)
Gibt es genug Sicherheit und Gelegenheit für die Trauer? Falls der Alltag sofort wieder „zuschlägt“, kann es sein, dass die Trauergefühle zu wenig Raum und Zeit bekommen, sich auszudrücken.
Nicht zuletzt spielen auch meine vorherigen Lebenserfahrungen, Überzeugungen sowie Resilienzfähigkeit eine bedeutende Rolle.
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Resilienz in der Trauer ist häufig
Einer der Einflussfaktoren hatte ich bislang nicht auf dem Schirm: die Resilienzfähigkeit, auch Widerstandsfähigkeit genannt. Der Begriff bezeichnet die Veranlagung, nach schwierigen Lebenserfahrungen relativ schnell wieder in die „Ausgangsform“ zurückzufinden.
Du kannst es dir wie bei einer Quietscheente vorstellen, die du in deiner Hand zerknautschst: Sie baut sich schnell von alleine wieder auf.
Die gute Nachricht: Die Wahrscheinlichkeit, auf den Tod eines nahestehenden Menschen resilient zu reagieren, ist hoch. Resilienz im Trauerfall ist eher die Norm als die Ausnahme, wie u.a. George A. Bonanno, Pionier der modernen Trauerforschung, nachgewiesen hat.
Ein resilienter Mensch mag durchaus erschüttert sein, wenn ein geliebter Mensch stirbt, und er mag trauern, und gleichzeitig ist er in der Lage, sehr gut mit der Erfahrung umzugehen. Er lebt oft schon Tage oder Wochen später seinen gewohnten Alltag und spürt wieder Freude am Leben, auch auf lange Sicht. Das gilt, wie gesagt, für die Mehrheit der Verlust-Betroffenen, fernab von Trauerphasen oder Trauerarbeit.
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Verdrängte Trauer ist selten
Widerstandsfähige Menschen geraten schnell unter Verdacht, nicht „richtig“ zu trauern. Ihr Verhalten stößt häufig auf Skepsis, Erstaunen oder Bedenken. So wird wird ihnen beispielsweise nicht geglaubt, wenn sie kurz nach ihrem Verlust sagen, dass es ihnen gut geht. Oder wenn sie sich schnell wieder in die Arbeit stürzen, mag das wie eine ungesunde Ablenkungsstrategie wirken.
Doch verdrängte oder unterdrückte Trauer, das wurde ebenso in Studien herausgefunden, trifft gerade einmal auf null bis fünf Prozent der Trauerfälle zu. Eine sehr kleine Minderheit. Wir machen es also in aller Regel „richtig“.
Alles andere wäre eigentlich auch verwunderlich, oder? Schließlich handelt es sich ja um eine zutiefst menschliche Erfahrung. Wir sind dafür gemacht.
Natürlich gibt es aber auch Hinterbliebene, die mit schweren Trauerverläufen kämpfen. Nach George A. Bonanno haben etwa zehn bis 15 Prozent aller Hinterbliebenen Trauerreaktionen, die sie noch Jahre nach dem Verlust belasten und im Alltag beeinträchtigen. Erschwerte, traumatische oder komplizierte Trauer sind ernstzunehmende Themen, die ich nicht kleinschreiben will.
Schwere Trauer, keine Trauer – alles darf sein
Es gibt darüber hinaus Menschen, die nach einem Verlust überhaupt keine Trauergefühle erleben. Früher galt das als ungesund. Heute weiß man, dass auch das nichts Besorgniserregendes ist. Es bedeutet nicht, dass die Trauer in späteren Jahren womöglich umso härter zuschlägt. Ebenso wenig ist es ein Indiz für die Qualität der verlorenen Beziehung.
Kurzum: Jeder Mensch nimmt auf seine Weise Abschied. Alles darf sein.
- Wenn du jemanden verloren hast, aber wenige Trauergefühle empfindest, ist das okay.
- Wenn du gerade aktiv trauerst, dann nimm dir bewusst den nötigen Raum dafür. Sei gut zu dir und vergiss nicht, dass du stärker bist, als du möglicherweise im Moment denkst.
- Wenn du „alte“ Trauer in dir trägst, die du bisher nicht zugelassen hast, dann ist auch das in Ordnung. Der richtige Zeitpunkt wird kommen. Achte dabei auf Körpersignale wie z.B. ein Kloß im Hals, Schlafstörungen oder ein Wunsch nach Rückzug.
- Wenn du das Gefühl hast, dass du etwas aufzuarbeiten hast, dann vertraue auf deine Intuition – und fange damit an.
Durch Verlust und Trauer wachsen
Ich glaube, jede Berührung mit Tod und Trauer hinterlässt Spuren auf der Seele. Und diese Spuren kannst du für dich nutzen – um bewusster zu werden, um zu wachsen, um letztlich mehr Sinn, Tiefe und Lebensfreude zu entwickeln. Es wird immer traurig bleiben, dass sie oder er nicht mehr bei dir ist. Es wird sich aber auch eine neue, wertvolle Perspektive auf deine Lebenszeit entwickeln.
Ich bin mir sicher: Ohne die Erfahrungen durch den Verlust meiner Mutter wäre ich nicht die, die ich heute bin – und dafür bin ich dankbar. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mir wünschen, sie wäre noch hier. Aber diese Wahl habe ich nicht. Die Wahl, die ich habe, ist, wie ich damit im Hier und Jetzt umgehe.
Links zum Thema:
- George A. Bonanno: Die andere Seite der Trauer
- trauerforschung.de
- gute-trauer.de
Als Mentaltrainerin unterstütze ich dich rund um die Themen Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung – lass uns sprechen!
Außerdem im Blog:
2 Kommentare
so einen Quatsch habe ich lange nicht gelesen. Trauer um eine Geliebte Person dauert 3 bis 5 Jahre. das Leben danach ist ein ganz anderes. man funktioniert nicht mehr. Inder Gesellschaft wird nicht über den Tod geredet. es könnte ja einen selber treffen. man wird gemieden von Freunden und Kollegen.
Liebe Mira,
mein herzliches Beileid zu deinem Verlust. Es tut mir leid, dass du diese Erfahrungen gemacht hast und danke dir, dass du davon berichtest.
Wie im Artikel erläutert, kennt Trauer keine Regeln. Dafür sind die Umstände je Todesfall und die Resilienz der Hinterbliebenen viel zu verschieden. Wir schlussfolgern oft von unseren eigenen Erlebnissen auf die anderer Menschen, was trügerisch sein kann. Genau daher halte ich es für interessant, die Trauerforschung anzusehen, die objektive Erkenntnisse zusammenträgt.
Die Gesellschaftskritik, die du äußerst, kann ich nachvollziehen, ist ja aber ein anderer Punkt. Ich finde diese Website empfehlenswert, vielleicht findest du hier den einen oder anderen wertvollen Impuls: https://www.gute-trauer.de/
Alles Gute für dich,
Liebe Grüße
Isabelle